Comenius heute?

Comenius hatte 1658 ehrgeizige Ziele in seiner großen Didaktik. Zum Anfang der Neuzeit mit neuen Weltanschauungen im Hinterkopf wollte er plakativ und optimistisch „den Weg weisen, auf dem sich alles leicht und mit Sicherheit erreichen lässt“ (Peterßen, S. 48).
In diesem Verständnis lassen sich der 550 Jahre alten großen Didaktik die noch heute gültigen didaktischen Grundfunktionen der Orientierung, Struktur und Legitimation zuweisen. Allerdings ist das Wegweisen (bezogen auf die Orientierungs- und Strukturierungsfunktion) bzw. der Weg an sich alles andere als „leicht“ (ebd.) und sicher.
In Zeiten des didaktischen Relativismus bestehen unzählige Methoden, im Zeitalter des hoch technologisierten Lehrens und Lernens unendlich viele Möglichkeiten der Mediennutzung. Ein Königsweg, wie in Comenius implizierte, existiert heute gerade vor dem Hintergrund des Prinzips der Variabilität nicht (mehr). Flexibilität und Ausweichmöglichkeiten werden erwartet und bewusst eingeplant – auch in Zusammenhang mit dem Prinzip der Interdependenz. Denn wo alles mit allem zusammenhängt, ist es nahezu unmöglich, eine lineare Input-Output-Gleichung aufzustellen.

Die wachsende Komplexität des Wissens (es gibt immer mehr Wissen in unterschiedlichster Form an verschiedensten Orten mit sinkender Halbwertszeit) stellt neue Anforderungen an die Art der Wissensvermittlung.
Didaktik kann nicht mehr die „vollständige Kunst [sein], alle Menschen alles zu lehren“ (ebd.) (vgl. dazu Enzyklopädismus als materialer Aspekt von Bildung, Petersen, S. 29). Vielmehr geht es darum, dahinterliegende Bezugssysteme offen zu legen, eine neue Konstruktion von Wissen zu ermöglichen (Reduktion, Rekonstruktion, Transformation) und Lehre begründbar und wirkungsvoll zu gestalten (Peterßen, S. 10) (vgl. dazu auch die Theorie des Klassischen, Petersen, S. 30).
Hierbei ist sprichwörtlich der Weg das Ziel, dahingehend, dass das Lehren vor allem darin besteht, das Lernen zu lernen. In Bezug auf die Technologie innerhalb des Lehrens und Lernen sollte ein Teil der Wissensvermittlung beinhalten, an diese heranzuführen und die Technologieauswahl sinnvoll zu begründen und repetierbar zu machen.
Die Didaktik war und ist eine rationale, systematische Disziplin (Peterßen, S. 22), aber mit verändertem Anspruch. Comenius legte den Schwerpunkt auf Vollständigkeit (alle alles), heute geht es eher um Bündelung, Auswahl und gezieltes Lehren und Lernen.

Innerhalb von hoch technologisiertem Lehren und Lehren spielt der Aspekt der Reihenfolge eine geringere Rolle als Comenius ihm beimisst. Individuelle Lehrpläne und Möglichkeiten des selbstständigen Abrufens von Informationen lässt die Planung nach Stunden, Tagen, Monaten und Jahren in den Hintergrund rücken und legt mehr Wert auf Lernergebnisse und Rekonstruierbarkeit.

Einen Schritt weitergehend und aus konstruktivistische Sichtweise argumentiert, spielt auch die von Comenius aufgeführte „Wahrheit durch Vergleichsbeispiele“ (Peterßen, S. 48) eine geringe Rolle in der heutigen Welt, denn jeder ist Konstrukteur seiner eigenen Realität und es bleibt immer nur eine subjektive Wahrheit, die sich ein jeder mithilfe eigener Beispiele und eigener Technologien konstruiert.

Comenius möchte „unnütze Mühe“ verringern und „rasch, angenehm und gründlich“ zu mehr Bildung, einer Lebensanleitung, guten Sitten und Frömmigkeit verhelfen. Das Themenspektrum und seine Aktualität und Realisierbarkeit im web2.0-Zeitalter außer Acht gelassen, verfolgt Comenius einen passiven Ansatz, der heutigen Ansprüchen an Lernen und Lehren nicht gerecht wird und sowohl die Individualität des Schülers als auch die des Lehrers außen vor lässt.

In einem hatte Comenius Recht behalten. Er kündigte eine flächendeckende Lehre unabhängig vom Aufenthaltsort („in allen Gemeinden, Städten und Dörfern“) und Geschlecht an. Diesem Anspruch wird das hoch technologisierte Lehren und Lernen mehr denn je gerecht.

verwendete Literatur:
Wilhelm H. Peterßen, Studienbrief: Einführung in die Didaktik, 2009
Jörg Petersen, Wiebke von Grone-Lübke, Studienbrief: Didaktische Modelle, 2009

2 comments:

  1. Hallo Anka,
    nachdem ich gerade selbst meine "Reflektion" fertig gebastelt habe, fand ich es sehr spannende, Deinen Beitrag nun zu lesen. Ich finde es toll, dass Du gezielt auf die einzelnen Schlagworte eingegangen bist und auf heute bezogen hast (hätte ich vielleicht auch machen können/sollen...?). Insgesamt finde ich es spannend, zu sehen, wie die Comenius-Didaktik aus unterschiedlichen Blickwinkeln heute wahrgenommen wird ;-). Für mich als Schul-Lehrerin sieht das doch nochmal etwas anders aus (sprich: noch gegenwärtiger) als für Dich - mega interessant. Freue mich schon, wenn noch andere Ihre Beiträge online haben! Lieber Gruß!

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  2. Hallo Anka,
    ich finde deine Ausführungen sehr nachvollziehbar und gut strukturiert. Außerdem natürlich vorbildlich, wie du deine Argumente mit Zitaten begründest. Ich glaube jedoch, dass in der Praxis, die Individualisierung des Unterrichts noch nicht in dem Maße umgesetzt wird, wie es erforderlich wäre. Sei es aus Mangel an Mitteln oder aufgrund fehlender Infrastruktur. Daher sehe ich die Comeniussche strikte Reihenfolge noch nicht als überwunden an.
    P.S.: Ist das in Island auf dem Bild oben?

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